Komplexe sind im Unbewussten gespeicherte verinnerlichte konflikthafte Erfahrungen in Beziehungen, die mit einer oder mehreren schwierigen Emotionen – z.B. Angst, Wut, Scham – einhergehen, weshalb C. G. Jung auch von „gefühlsbetonten Komplexen“ spricht. Die Konflikterfahrungen wurden meist in der vulnerablen Phase der Kindheit gemacht, in einer Situation, die mit einem starken Gefühl einherging. Diese emotionsgeladenen Komplexe wirken als autonome Komplexe im Unbewussten weiter. Jung bezeichnet sie daher auch als abgesprengte Teilpsychen (GW 8, § 204), die unser Bewusstsein und unsere ganze Aufmerksamkeit bestimmen können.
Er schreibt: „Jedermann weiß heutzutage, dass man ‚Komplexe hat‘. Dass aber die Komplexe einen haben, ist weniger bekannt […]. Durch jede Komplexkonstellation wird ein gestörter Bewusstseinszustand gesetzt“ (GW 8, § 200). Wenn im gegenwärtigen Leben Erfahrungen gemacht werden, die diesen früheren Konflikterfahrungen ähneln, reagieren wir komplexhaft, d.h. wir verhalten uns sehr emotional, der aktuellen Situation nicht angemessen, nehmen diese nicht korrekt war, sondern deuten sie im Sinne des Komplexes. Bedeutende Komplexe sind Mutter-, Vater-, Geschwister-, Neid-, Minderwertigkeits- oder Angstkomplex.
Wenn vergleichbare Erlebnisse im Sinne des Komplexes gedeutet werden, verstärkt dies den Komplex bzw. die Emotion, die mit diesem Komplex verbunden ist. Bei einem Angstkomplex z.B. zeigt sich dies so, dass der betreffende Mensch immer ängstlicher wird. In der Folge werden immer mehr Lebensereignisse komplexhaft eingebunden und erlebt.
Komplexe drängen zur Auseinandersetzung mit Konflikthaftem, Unerledigtem. Sie bewirken einerseits eine Hemmung des Lebens, und zwar dadurch, dass der Mensch emotional überreagiert, nicht der aktuellen Situation angemessen, sondern mit einem lebensgeschichtlich bedingten Überhang. Durch die Abwehr dieser Emotionen entstehen stereotype Verhaltens- und Erlebnisweisen. Als Energiezentren machen Komplexe aber auch die Aktivität des psychischen Lebens aus; in ihnen liegen die „Keime neuer Lebensmöglichkeiten“ (GW 8, § 210). Jung bezeichnet die Komplexe auch als „Brenn- oder Knotenpunkte des seelischen Lebens“, die nicht fehlen dürfen, „weil sonst die seelische Aktivität zu einem fatalen Stillstand käme“ (GW 6, § 925).
Jedes affektgeladene Ereignis, alles, was für uns schmerzhaft ist oder Angst gemacht hat, kann zu einem Komplex werden – nicht nur in der Kindheit, sondern auch noch im späteren Leben. Wenn Themen oder Emotionen, die mit dem Komplex verbunden sind, angesprochen werden, wird das Gesamte der unbewussten Verknüpfungen, d.h. die zur ursprünglichen Konflikterfahrung dazugehörigen Emotionen aus der Lebensgeschichte sowie die daraus resultierenden stereotyp ablaufenden Abwehrstrategien, aktiviert: Der Komplex hat sich „konstelliert“, wie es in der Analytischen Psychologie heißt. Je stärker die Emotion und je größer das zur Konfliktsituation gehörende Bedeutungsassoziationsfeld, desto stärker ist der Komplex, desto mehr werden andere psychische Anteile, insbesondere auch das Ich-Bewusstsein, in den Hintergrund gedrängt. Dies hat zur Folge, dass wir nicht mehr frei entscheiden können, wie wir uns verhalten wollen, wir können unsere Gefühle nicht mehr differenziert wahrnehmen und verhalten uns, wie wir es eigentlich gar nicht wollen. Das sichere Selbstgefühl, das wir normalerweise haben, verlieren wir vorübergehend.
Komplexe zu haben ist völlig normal. Sie sind lebendige Bausteine der unbewussten Psyche und machen unsere psychische Disposition aus. Komplexe sind Ausdruck von Lebensproblemen, die auch zentrale Lebens- und Entwicklungsthemen darstellen. Sie bezeichnen somit die krisenanfälligen Stellen im Individuum.
Hier noch einmal eine Definition des Komplexes von C. G. Jung: „Was ist nun wissenschaftlich gesprochen ein gefühlsbetonter Komplex? Er ist das Bild einer bestimmten psychischen Situation, die lebhaft emotional betont ist und sich zudem als inkompatibel mit der habituellen Bewusstseinslage oder Einstellung erweist. Dieses Bild ist von starker innerer Geschlossenheit, es hat seine eigene Ganzheit und verfügt zudem über einen relativ hohen Grad von Autonomie, d.h., es ist den Bewusstseinsdispositionen nur in geringerem Maße unterworfen“ (GW 8, § 210).