Maltherapie

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Malen aus dem Unbewussten

Das Schöpferische ist nach Jung das Prinzip, das in der ganzen Schöpfung wirkt, das immer neue Formen und Gestalten hervorbringt, z.B. in der Evolution. An das Schöpferische angeschlossen zu sein, macht den Menschen heil, lässt ihn immer wieder heil werden.[1] Durch Einfälle, Inspiration, Imagination und gerade auch durch das sogenannte „Malen aus dem Unbewussten“, das in der Maltherapie auf der Basis der Analytischen Psychologie C. G. Jungs praktiziert wird, wird das Schöpferische Prinzip lebendig und bewusst: „In creation you are created“[2], sagte Jung einmal in einem seiner englischen Seminare.

Jung ging dabei von einer Erfahrung mit sich selbst während einer krisenhaften Phase mit stürmischen Emotionen aus, die ihn geradezu aufzulösen drohten: „In dem Masse, wie es mir gelang, die Emotionen in Bilder zu übersetzen, d.h. diejenigen Bilder zu finden, die sich in ihnen verbargen, trat innere Beruhigung ein. Wenn ich es bei der Emotion belassen hätte, wäre ich womöglich von den Inhalten des Unbewussten zerrissen worden“[3], sagt er in seiner Autobiographie „Erinnerungen, Träume, Gedanken“. Es ist bekannt, dass er selbst, z.B. im „Roten Buch“[4], seine damaligen Emotionen und Imaginationen zu eindrucksvollen Bildern zu gestalten wusste. So ist seine eigene Erfahrung zur Grundlage eines therapeutischen Konzepts geworden, das er auch selbst in seiner Praxis mit den eigenen Patientinnen und Patienten anwandte. Es ist ein Konzept, das Bildern in jeder Form – in Gestalt von Traumbildern, von imaginierten Bildern, nicht zuletzt aber in Gestalt von gemalten Bildern – eine entscheidende Rolle beim Heilungsprozess einräumt. Es beruht auf der Erfahrung, dass immer dann, wenn es gelingt, eine starke bzw. überstarke Emotion in ein Bild zu fassen, eine positive Persönlichkeitsveränderung geschehen kann.

Der „schöpferische Instinkt“, wie Jung ihn nennt, ist gleichsam eine biologische Ressource, zunächst noch im Unbewussten. Doch bewusst aufgegriffen, wird er zu einem intuitiven, schöpferischen Akt, der mit einer Gestaltung beginnt. Dass beim Gestaltungsvorgang Bewusstes und Unbewusstes miteinander in Kontakt kommen, miteinander ringen, bis sie ein Symbol, also ein Sinnzeichen, hervortreiben, das von beiden Seiten etwas enthält und sie miteinander verbindet, dies hält Jung für das besonders Heilsame am Malprozess. Bisher unbewusst Gebliebenes oder gar Abgespaltenes in der Psyche des Gestalters kann integriert werden.

Beim Malen aus dem Unbewussten bleibt man während des Gestaltungsprozesses zum Unbewussten hin geöffnet, so dass es zu einem ständigen Austausch zwischen bewussten und unbewussten Impulsen kommt. Man könnte vielleicht besser von intuitivem Malen sprechen, bei dem während der Begegnung zwischen unbewussten und bewussten Impulsen auch eine Symbolbildung einsetzt. Das Symbol im gemalten Bild kann z.B. eine Brücke sein, die nun über das Wasser führt, das bisher als unüberbrückbar dargestellt wurde. Dies geht mit der eigentlichen Verbindung zwischen dem Bewussten und Unbewussten des Malers oder der Malerin einher und macht sie sichtbar. Im Symbol der Brücke wird diese Verbindung auch anschaubar und damit verbalisierbar. In einem nacherlebenden und reflektierenden Dialog mit dem Therapeuten kann das Bild in seiner Bedeutung für den, der es gemalt hat, nun zur Sprache kommen und auch im Zusammenhang mit dessen Lebenssituation verstanden werden: Was ist das konkrete Wasser, was sind die beiden Ufer, die hier im Bild wie in der psychischen Wirklichkeit von nun an wirklich überbrückbar erscheinen, die überbrückt worden sind? Hier setzt Jungs Konzept einer tiefenpsychologischen Therapie durch das Malen und Besprechen von Bildern an, die er selber in seiner psychiatrischen Praxis auch mit schwer gestörten Patientinnen und Patienten erprobte.

Schon bei Jungs enger Mitarbeiterin Jolande Jacobi, die diese Arbeit mit dem Malen und Besprechen von Bildern als erste auch in der Klinik einsetzte, kam die Bezeichnung „Malen aus dem Unbewussten“ auf. Direkt aus dem Unbewussten heraus kann man natürlich nicht malen, wohl aber offen sein für Impulse aus dem Unbewussten, so dass man schon den ersten Einfall zur Gestaltung von Bildern, die Inspiration, vom Unbewussten her erwartet. Es kommt dann vielleicht zunächst nur der Impuls auf, mit Blau anzufangen, der sich dann während der Gestaltung unwillkürlich z.B. zu einem Meer ausformt und konkretisiert, und damit eine bestimmte Symbolik hinzugewinnt, während auch schon das Blau selbst als Farbe ein bestimmtes emotionales und symbolisches Feld eröffnet hatte. Die weite waagerechte Fläche lockt bei der Gestalterin dann vielleicht den Impuls hervor, einen Kontrast zu setzen, z.B. den hohen senkrechten Mast eines Segelbootes einzufügen, um plötzlich – worauf sie in dem Moment gar nicht gefasst ist – einen Blitz aus dem Himmel auf ihn herabfahren zu sehen. Da blitzt ein bisher verborgener, nicht ungefährlicher Konflikt auf, an dem man weiterarbeiten kann – malend und anschließend mit der Therapeutin in der Besprechung des Bildes, in der man dann auch auf die entsprechende Spannung in der Lebenssituation der Patientin, die sich in ihrem Bild bereits entladen hat, zu sprechen kommen kann.

Es hat sich in der Jung’schen Schule eingebürgert, nicht nur den beschriebenen Malprozess selbst als „Malen aus dem Unbewussten“ zu bezeichnen, sondern diese ganze Methode so zu benennen, in der phasenhaft während einer laufenden Therapie ein solches Malen und Besprechen der Bilder einbezogen wird bzw. in der das Malen und Besprechen der Bilder die ganze Therapie vom Anfang bis zum Abschluss begleitet, so dass Malen aus dem Unbewussten hier wirklich zu einer tiefenpsychologisch fundierten Kunsttherapie wird, zu einer analytischen Maltherapie.

Diese Art Malen wird also entweder während der schon laufenden Therapie vom Therapeuten angeregt, oder, wenn spontan vom Patienten gewünscht, vom Therapeuten in den Therapieprozess einbezogen, in dem nun die entstehenden Bilder als Stoff und Botschaft aus dem Unbewussten den gleichen Stellenwert haben, den etwa Träume seit jeher in der Jung’schen Analyse haben, wo sie – wie jetzt auch die Bilder – mit dem Patienten zusammen emotional nacherlebt, betrachtet und besprochen werden.

Intuition beim Verstehen und Besprechen von Bildern

Der Patient als Gestalter seiner Bilder und der Therapeut als empathisch teilnehmender, mitschwingender Betrachter und Gesprächspartner mit dem Bild und über das Bild, beide arbeiten bei dieser tiefenpsychologischen Maltherapie auf eine besonders aktive und zugleich intuitive Weise zusammen, sind in Resonanz miteinander. Das Bild ist einerseits etwas ganz eigenes, was der Patient einbringt, während es zugleich – wenn sich Patient und Therapeut im Dialog gemeinsam darauf beziehen – zum Dritten wird, dem ihre gemeinsame Zuwendung gilt. Dies ermöglicht eine eigentümliche Triangulierung der therapeutischen Beziehung, eine gemeinsame Bezogenheit auf das Bild, bei der Patient und Therapeut eher auf Augenhöhe miteinander kommunizieren und Übertragungsverwicklungen vermieden werden. Das Bild fungiert als Drittes im Bunde, was innerhalb der Dyade von Analysandin und Therapeutin, die auch zur Symbiose verwachsen könnte, eine feine, hilfreiche Distanz ermöglicht, die manchen Patientinnen und Patienten gerade erst ermöglicht, sich auf Vertrauen und eine gewisse Nähe einzulassen.

Dem Besprechungsvorgang bei Bildern wird hier wie bei dem von Träumen und Imaginationen ein hoher therapeutischer Stellenwert und Wirkfaktor eingeräumt, auch wenn nicht jedes einzelne Bild besprochen werden muss. Manchmal ist die Besprechung stimmiger, wenn bereits eine kleine Serie von Bildern entstanden ist. Die Gestalterin ist oft noch nicht unmittelbar nach dem schöpferischen Prozess zu einem Gespräch darüber bereit, wenn alles noch zu frisch ist, während einige Tage später eine Besprechung, die ja immer auch ein Echo auf das Bild darstellt, von der Malerin hoch erwünscht sein kann.

Dass bei diesem Dialog vor und mit dem Bild von der Therapeutin her ein hohes Maß an Intuition gefordert ist, lässt sich leicht einsehen: Es bedarf bei ihr des Kontaktes zum eigenen Unbewussten und zu dem der Patientin, es bedarf der Empathie, der Wahrnehmung der eigenen Resonanz auf das Bild. Es braucht den Blick auf das Ganze des Bildes, auf seine Stimmung und Stimmigkeit. Intuition ist zunächst präverbal. Intuition zeigt sich bei der Therapeutin vor allem in der Fähigkeit, angesichts eines entstandenen Bildes die Worte zu finden, durch die sich die Gestalterin bei dem, was sie ausdrücken wollte, empathisch verstanden fühlt, so dass sie Resonanz spürt. Intuition ist die Kunst, angesichts des Bildes die richtigen Fragen zum Bild an dessen Gestalter bzw. Gestalterin zu stellen. Man könnte Intuition als die Kunst verstehen, jeweils die richtigen Fragen zu stellen. All dies sind Merkmale der Intuition.

Prof. Dr. Dr. Ingrid Riedel

Auszug aus: Ingrid Riedel / Christa Henzler: Maltherapie. Auf Basis der Analytischen Psychologie C. G. Jungs. Erweiterte Neuausgabe. © Patmos Verlag, Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG, Ostfildern, 2016. www.verlagsgruppe-patmos.de

 

[1] Henzler, C. / Riedel, I.: Malen um zu überleben. Ein kreativer Weg durch die Trauer. Stuttgart 2003.
[2] Jung, C. G.: Nietzsche’s Zarathustra. Notes of the Seminar Given in 1934–1939. 2 Bde. Hg. von J. L. Jarrett. Princeton, NJ, 1989, S. 653.
[3] Ders.: Erinnerungen, Träume, Gedanken. Aufgezeichnet und herausgegeben von A. Jaffé. Sonderausgabe. 20. Aufl . Ostfildern 2018, S. 198.
[4] Ders.: Das Rote Buch. Liber Novus. Hg. und eingeleitet von S. Shamdasani. Vorwort von U. Hoerni. Einleitung, Hinweise des Herausgebers zur Edition, Anmerkungsapparat und Danksagung aus dem Englischen übersetzt von C. Hermes. 5. Aufl . Ostfildern 2019.