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Der Individuationsprozess

Prof. Dr. Verena Kast

Unter dem Individuationsprozess wird der Prozess der dialogischen Auseinandersetzung zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten verstanden. Bewusste und unbewusste Inhalte vereinigen sich in den Symbolen.

Ziel des Individuationsprozesses ist es, dass man zu dem Menschen wird, der man eigentlich ist. „Werde, der du bist“, so sagte schon Pindar, die Idee ist also nicht neu. Aristoteles betonte, dass jedes Erschaffensein sich die nur ihm eigene Gestalt habe, und das Leben soll zu dieser eigenen Gestalt hinführen. Das heißt, dass die Fülle der Lebensmöglichkeiten, die in uns angelegt sind, zu einem großen Teil erlebbar werden, dass sichtbar wird, was in uns – und vielleicht eben nur in uns – angelegt ist.

Der Individuationsprozess ist in diesem Sinne ein Differenzierungsprozess: Die Besonderheit eines Menschen soll zum Ausdruck kommen, seine Einzigartigkeit. Dazu gehört ganz wesentlich das Annehmen von sich selbst mit den jeweils damit verbundenen Möglichkeiten, aber auch den Schwierigkeiten; wobei gerade die Schwierigkeiten wesentlich sind – sie machen ja unsere Besonderheit weitgehend aus. Das Annehmen von sich selbst, samt den Möglichkeiten und den Schwierigkeiten, ist eine Grundtugend, die im Individuationsprozess verwirklicht werden will.

Im Zusammenhang mit dem Individuationsprozess wird immer wieder das Bild eines Baumes gebraucht: Ein Samen, der zur Erde fällt, soll zu dem Baum werden, der im Samen angelegt ist und der in Wechselwirkung mit Standort, Wetter, Klima usw. steht. Wenn wir an Bäume denken, sind auch ihre Verwundungen etwas sehr Charakteristisches.

„Werden, der man ist“, „Werden, die man ist“ heißt keineswegs glatt, harmonisch, abgeschliffen zu werden, sondern immer mehr an sich wahrzunehmen, was man ist, was stimmig ist in der eigenen Persönlichkeit samt Ecken und Kanten. Insofern ist der Individuationsprozess auch immer ein Annäherungsprozess; wir wissen ja nicht, was wir letztlich sind, und auch der Analytiker / die Analytikerin weiß es nicht. Es ist eine Annäherung, jede Wandlung, die wir erleben, ist auf Korrigierbarkeit angelegt, ist vorläufig.

Der andere Aspekt des Individuationsprozesses – ebenso wichtig und vielleicht psychologisch auch praktikabler und ebenso mit dem Ziel der Selbstwerdung verflochten – zielt auf das Erreichen von mehr Autonomie. Der Mensch soll zu einem Einzelwesen werden, abgelöst von den Elternkomplexen und, damit zusammenhängend, auch von kollektiven Maßstäben, von Normen und Werten in einer Gesellschaft, von Rollenerwartungen, von dem, was „man“ denkt. Man-selbst-Werden heißt also auch mündig werden.

Im Weltbild der Jung’schen Psychologie gilt, dass das, was außen ist, auch innen, was innen, auch außen ist. Wir sollen uns deshalb nicht nur vom Verhaftetsein an kollektive Werte, Normen, Rollenerwartungen lösen – die wir in unserer Persona internalisiert haben –, sondern auch vom Verhaftetsein ans Unbewusste, und dann bewusst in Beziehung dazu treten. Wir sollen also weder vom Unbewussten bestimmt werden noch von den Werten, die wir gesellschaftlich geschaffen haben. Vom Verhaftetsein ans Unbewusste gelöst zu sein, meint z.B., dass wir unser Leben nicht einfach von einem Archetypus bestimmenlassen, während wir es gar nicht merken.[1]

Ein Beispiel dazu: Ein Mann, 42-jährig, war vom Archetypus des Helden sehr in Beschlag genommen. Überall und automatisch wollte er ein Held sein und fühlte sich schlecht, wenn er kein Held sein konnte. Die Menschen sagten zu ihm, lobend oder tadelnd, er würde sich immer so heldenhaft benehmen; ihm wurde immer so viel Arbeit zugeschoben, weil er sich nie beklagte, alles gut bewältigte. Er träumte auch oft von Helden. Mit der Zeit wurde ıhm selber deutlich, dass er sehr stark davon bestimmt war, Held sein zu müssen. Er fragte sich in vielen Lebenssituationen, ob es für ihn und für die Sache sinnvoll sei, Held zu sein. Ein Dialog zwischen dem Ich und dieser Heldenseite setzte ein. Die Heldenseite im Menschen ist nicht nur einfach etwas Problematisches. Ziel wäre es vielmehr, dieser Seite dort einen Platz im Leben einzuräumen, wo sie sinnvoll ist. Solch ein Vorgang wäre Ablösung vom Unbewussten. Sie bedeutete noch nicht, dass dieses Unbewusste nicht im alten Sinne weiterwirkte, aber wenigstens könnten wir dann zu diesen Seiten in eine Beziehung treten und würden nicht mehr einfach davon bestimmt.

Jung sieht also, wenn wir beide Aspekte zusammensehen, den Menschen als einen, der im gelebten Vollzug des Individuationsprozesses – und der findet in der Therapie statt – zu dem werden soll, der er eigentlich ist, also immer weniger fremdbestimmt durch Kräfte des kollektiven Unbewussten. Anstelle dieser Fremdbestimmung tritt der Dialog – der Dialog zwischen Bewusstsein und Gesellschaft, der Dialog auch zwischen Bewusstem und Unbewusstem. Und das würde dann – zwar immer vorläufig – im Laufe des Individuationsprozesses eine Entwicklung zu mehr Autonomie bringen.

Jung bezeichnet den Individuationsprozess einerseits als internen, subjektiven Integrationsvorgang, d.h. in diesem Prozess stehend lernt der Mensch immer mehr Seiten an sich selbst kennen und tritt mit ihnen in Kontakt, verbindet sie mit dem Bild von sich selbst – z.B. durch Rücknahme von Projektionen. Andererseits ist der Individuationsprozess ein interpersoneller, intersubjektiver Beziehungsvorgang, „denn“, so Jung, „die Beziehung zum Selbst ist zugleich die Beziehung zum Mitmenschen, und keiner hat einen Zusammenhang mit diesem, er habe ihn denn zuvor mit sich selbst.“[2] Oder: „Der unbezogene Mensch hat keine Ganzheit, denn er erreicht diese nur durch die Seele, die ihrerseits nicht sein kann ohne ihre andere Seite, welche sich stets im ‚Du‘ findet.“[3]

Diesem Gedanken, dass der Individuationsprozess zugleich ein Integrationsprozess und ein Beziehungsvorgang ist, ist in der Jung’schen Therapie auch die subjekt- und objektstufige Deutung von Symbolen verpflichtet. Wenn wir z.B. im Traum einer Autoritätsfigur begegnen, dann kann man diese als äußere Autorität sehen, der wir eben in einer besonderen Färbung im Traum begegnen. Unser Verhalten im Traum kann dann etwas aussagen über unser Verhalten im Alltag den entsprechenden Autoritäten gegenüber. Das wäre eine Deutung auf der Objektstufe. Bei der Deutung auf der Subjektstufe wird diese Autorität als innere Gestalt gesehen, als eine Seite von uns selbst und in diesem Zusammenhang als ein autoritärer Zug in uns selbst. Wenn man Jung nicht verkürzt, meine ich, dass man beide Deutungsformen beiziehen müsste. Der Individuationsprozess müsste keineswegs dazu führen, dass Menschen einsame Individuen werden, sondern er müsste Menschen gerade gemeinschaftsfähiger machen. Nach Jung bringt der „Individuationsprozess eine Bewusstheit menschlicher Gemeinschaft hervor, weil er eben das alle Menschen verbindende und allen Menschen gemeinsame Unbewusste zur Bewusstheit führt. Die Individuation ist ein Einswerden mit sich selbst und zugleich mit der Menschheit, die man ja auch ist.“[4] Oder anders ausgedrückt: Es gibt niemals nur Entwicklung von Autonomie, Hand in Hand damit geht immer auch die Entwicklung von Beziehungsfähigkeit.

Individuation ist ein Ziel. Ganzwerden ist eine Utopie, wir sind bestenfalls auf dem Weg. Der Prozess „erfüllt die Dauer des Lebens mit einem Sinn“[5].

Auszug aus: Verena Kast: Die Dynamik der Symbole. Grundlagen der Jung’schen Psychotherapie. 2. Auflage der Neuausgabe. © Patmos Verlag, Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG, Ostfildern, 2019. www.verlagsgruppe-patmos.de

 

https://shop.verlagsgruppe-patmos.de/die-dynamik-der-symbole-010846.html

 

[1] Vgl. Jung, Zur Empirie des Individuationsprozesses, in: GW 9/I, § 530.

[2] Jung, Die Psychologie der Übertragung, in: GW 16, § 445.

[3] Ebd., § 454.

[4] Jung. Die Psychotherapie der Gegenwart, in: GW 16. § 227.

[5] Jung, Die Psychologie der Übertragung, in: GW 16, § 400.

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