Die Analytische Psychologie ist von Carl Gustav Jung (1875–1961) begründet worden und gehört zusammen mit der Psychoanalyse Freuds und der Individualpsychologie Adlers zu den klassischen tiefenpsychologischen Richtungen.

Jung entwickelt seine Psychologie zunächst in der freundschaftlichen Beziehung zu Freud, 1913 kommt es aber zum Bruch mit Freud und der Psychoanalyse, ausgelöst durch Jungs abweichende Vorstellungen über das Unbewusste. Er führt den Begriff des kollektiven Unbewussten ein, und von nun an ist ein Großteil seiner Arbeit darauf ausgerichtet, die Existenz, Bedeutung und Dynamik der archetypischen Dimension der Psyche nachzuweisen und zu verstehen. Sowohl für die Idee des Archetypischen als auch für seine anderen theoretischen Konzepte sucht er nach Vorläufern und Parallelen in der Kultur- und Geistesgeschichte der Menschheit. Für ihn gibt es ohne Geschichte keine Psychologie und keine Psychologie des Unbewussten, weil nur durch den historischen Vergleich der Standpunkt des jeweiligen Beobachters bestätigt und relativiert werden könne.

Parallelen zu seinen Konzepten und Begriffen findet er bei den Gnostikern, Neuplatonikern, Kirchenvätern, Mystikern und Hermetikern, sowie in der romantischen Philosophie und in der Naturphilosophie (Goethe, Schelling, Schleiermacher, Schubart, Fichte, Nietzsche, Carus, Schopenhauer und E. von Hartmann). Stark beeinflusst wird er auch von T. Flournoy und W. James.

Insbesondere die Begegnung mit der Alchemie wird für Jung zum entscheidenden Erlebnis, da er feststellt, dass seine eigenen Erfahrungen und Auffassungen mit denen der Alchemisten erstaunlich übereinstimmen. Außer mit der Kultur und Philosophie des Abendlandes beschäftigt sich Jung intensiv mit westlichen und östlichen Religionen, sowie mit den Mythen, Märchen, Sitten und Gebräuchen der Völker der Welt. Bis zu seinem Lebensende bilden seine alchemistischen Studien einen zentralen Inhalt seiner Forschung (GW 12, 13, 14/I und 14/II). Leider bleiben gerade diese Gedankengänge dem Leser meist schwer verständlich, was u. a. auf ihren symbolischen Charakter und die Überfülle von motivgeschichtlichen Amplifikationen zurückzuführen ist.

Zeitlebens beschäftigen Jung Fragen des Christentums und des Religiösen (GW 11). Er vertritt die Auffassung, dass den Kern jeder Neurose die Frage nach dem tieferen Sinn des Lebens und dem Religiösen bildet. Jung ist beeindruckt von der Tiefe und Vielfalt der psychischen Erfahrungen und Erkenntnisse, die sich in den östlichen Religionen spiegeln, lehnt aber eine unreflektierte Übernahme östlicher Übungswege und Vorstellungen für den westlichen Menschen ab. Die christliche Botschaft gehört für ihn nach wie vor ins Zentrum des westlichen Menschen, allerdings bedürfe sie einer neuen Sicht, u.a. des Einbezugs des weiblichen Prinzips (Eros-Prinzip) sowie dessen Verbindung mit dem männlichen Prinzip (Logos-Prinzip) und die Anerkennung der ambivalenten Paradoxie des Gottesbildes, die dunkle Seite Gottes.

Jung will mit seiner Psychologie allen Aspekten, Lebensäußerungen und Bedürfnissen des Menschen gerecht werden (Ganzheit). Deshalb beschäftigt sich die Analytische Psychologie nicht nur mit seelischen Erkrankungen, sondern auch mit der gesunden und schöpferischen Entfaltung des Menschen, der Gesellschaft und der Kultur. Schon vor der Entwicklung der modernen kybernetischen, systemtheoretischen Modellvorstellungen hat Jung den Menschen als ein sich selbst regulierendes System beschrieben. Im Zentrum seiner Persönlichkeitspsychologie steht das Selbst und die Individuation, die Entwicklung des Menschen auf ein erweitertes Bewusstsein, eine größere humanitäre Reife und soziale Verantwortlichkeit hin. Im Individuationsprozess soll der Mensch zu dem werden, der er von seinen Anlagen und Entwicklungsmöglichkeiten her wirklich ist. Er soll sich die verschiedenen Aspekte seines Wesens bewusst machen, verarbeiten und in sein Leben hineinnehmen. Hierzu gehören beispielsweise seine dunklen Seiten, die Jung unter dem Begriff des Schattens zusammenfasste und die im Gegensatz zu den nach außen dargestellten, gesellschaftlich erwünschten Aspekten (Persona) stehen oder auch seine gegengeschlechtlichen Anteile (Animus = männliche Aspekte in der Frau; Anima = weibliche Aspekte im Mann). Er soll auch erfahren, dass er als Individuum eine körperlich-seelische Einheit und Ganzheit ist, die Jung in Anlehnung an die indische Philosophie das »Selbst« nannte und die in einer unauflösbaren Abhängigkeit und Verbundenheit mit der sozialen Mitwelt und Umwelt steht.

Von diesen Vorstellungen wird auch ein integratives Behandlungskonzept abgeleitet, in dem neben dem analytischen Aufarbeiten unbewusster (traumatischer) Erfahrungen und Konflikte die Förderung der kreativen Entfaltung und selbstverantwortlichen Lebensgestaltung von großer Bedeutung ist. Körperliche wie seelische Erkrankungen werden als Ausdruck dessen verstanden, dass das gesunde Wechselspiel der verschiedenen Polaritäten der Ganzheit des Organismus gestört ist. In der Psychotherapie wie auch im Individuationsprozess sollen die aus dem bisherigen Leben ausgeschlossenen und unbewusst gebliebenen Polaritätsaspekte dem bewussten Erleben und Verhalten schrittweise zugänglich gemacht werden, so dass es (wieder) zu einem dynamischen, schöpferischen Gleichgewicht zwischen den Polaritäten, zu einer »Vereinigung der Gegensätze« (Coniunctio) kommen kann. Wichtiger Bestandteil einer analytischen Psychotherapie ist die Auseinandersetzung mit unbewussten Ausdrucksformen der Psyche, also z. B. mit Träumen, Fantasien und Symbolen, in denen sich ungelebtes Leben und schöpferische Impulse spiegeln können.

Jungs Leben und Werk bilden eine untrennbare Einheit. »Meine Werke können als Stationen meines Lebens angesehen werden, sie sind Ausdruck meiner inneren Entwicklung, denn die Beschäftigung mit den Inhalten des Unbewussten formt den Menschen und bewirkt seine Wandlung. (…) Alle meine Schriften sind sozusagen Aufträge von innen her; sie entstanden unter einem schicksalshaften Zwang. (…) Sie stellen eine Kompensation zu meiner kontemporären Welt dar, und ich musste das sagen, was niemand hören will.« (Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken, 1962, S. 225)

Dass Jung immer wieder auch heftige Kritik erfahren hat, hat er sicher nicht nur seinen revolutionären Ideen, für die die Zeit noch nicht reif war, zu verdanken, sondern auch seiner gelegentlich inflationären, arroganten Persönlichkeit, seinem oft assoziativ-ausuferndem Schreibstil, seinen widersprüchlichen Begriffsdefinitionen und vor allem seinen antisemitischen Äußerungen und seinen anfänglichen Sympathien für Hitler und die Ideologie des Nationalsozialismus.

Jungs Werke sind in fast alle europäischen und auch einige außereuropäischen Sprachen übersetzt worden. Die englische und deutsche Gesamtausgabe umfasst 20 Bände, dazu kommen drei Bände seiner gesammelten Briefe, weitere Seminarbände und eine Autobiographie, die von A. Jaffé (Jung, 1962) aufgezeichnet und herausgegeben wurde.

Die Analytische Psychologie hat sich in den letzten Jahrzehnten unterschiedlich weiterentwickelt. Samuels (1989, S. 45ff.) unterscheidet drei Hauptrichtungen: die Klassische Schule, die Entwicklungspsychologische Schule und die Schule der Archetypen-Psychologie. Diese Richtungen könnten noch durch eine integrative Richtung ergänzt werden (Müller, 1995).

(aus: Anette Müller / Lutz Müller (Hg.), Wörterbuch der Analytischen Psychologie (S. 19-21), © 2003 Patmos Verlag GmbH & Co. KG, Düsseldorf, mit freundlicher Genehmigung des Patmos Verlages)

Die Analytische Psychologie in der heutigen Zeit

Kann eine Psychologie, die vor 100 Jahren entwickelt worden ist, noch relevant sein?
Sie ist es, denn sie bezieht sich auf Grundanliegen des heutigen Menschen:

  • In der Analytischen Psychologie und Psychotherapie herrschte von Anfang an das beidäugige Sehen: Im Konzept der Komplexe sind die Probleme aber auch die Ressourcen eines Menschen erfasst.
  • In der Jungschen Psychotherapie ist die Entwicklung des Schöpferischen und damit auch der Selbstwirksamkeit des Menschen ein Kernanliegen.
  • Das Suchen nach Sinn und das Streben nach Selbstwerdung (Individuation) sind zentral, damit aber auch eine Orientierung im Leben, die Schwierigkeiten auch dahin befragt, welchen Sinn sie haben. Damit ergibt sich die Möglichkeit, Schicksalsschläge als wichtige Kernpunkte der Biografie zu verstehen.
  • In der Jungschen Psychologie werden die religiösen Bedürfnisse, die spirituellen Bedürfnisse des Menschen als ein Grundbedürfnis gesehen und behandelt.

(Thomas Schwind, Mitglied des Vorstands der C. G. Jung-Gesellschaft Köln)

Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten in Analytischer Psychologie und Psychotherapie gibt es im deutschsprachigen Raum in Küsnacht / Zürich, in Wien, in München, Stuttgart, Köln und Berlin. Weltweit gibt es etwa 50 Ausbildungsinstitute, die in der Internationalen Gesellschaft für Analytische Psychologie (IAAP) vereint sind.

Infos im Internet erhältlich über: www.cgjung.de

Literatur

  • Jung, C. G. (1962): Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung.
    Aufgezeichnet und herausgegeben von Aniela Jaffé. Walter, Olten.
    15. Auflage 2007: Walter, Düsseldorf
  • Jung, C. G. (1971ff.): Gesammelte Werke. 20 Bde.
    Hg. Von Lilly Jung-Merker / Elisabeth Rüf / Leonie Zander et al.
    Walter, Olten et al.
  • Müller, Lutz (1995): Überlegungen zu einer analytisch-integrativen Psychotherapie. In: Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie, Heft 88. Neuherausgabe 2003: www.opus-magnum.de
  • Samuels, Andrew (1989): Jung und seine Nachfolger. Neuere Entwicklungen der Analytischen Psychologie. Klett-Cotta, Stuttgart