„Wissen, Wahrheit und alternative Fakten“ – Arbeitskreis für Philosophie und Analytische Psychologie mit Dr. Matthias Gabriel und Thomas Schwind

Veröffentlicht in: Vortrags- und Seminarberichte | 0

Was können wir wissen? Was halten wir für „Wissen“? Wer oder was leiten uns dabei und welche „Traditionen“ des Wissens und der Erkenntnis gibt es? Was teilen sie über ihre Gesellschaft und ihre Zeit mit? Wie verhält sich das Wissen und die Erkenntnis zur Wahrheit? Was ist Wahrheit? Und warum haben wir es heute in beunruhigender Weise mit weit verbreiteten bizarren Verschwörungstheorien und mit Verkündern „alternativer Fakten“ zu tun? Wie funktionieren Verschwörungsideologien?

Philosophieren geht online. Das erprobte der Arbeitskreis für Philosophie und Analytische Psychologie bereits vor Kurzem mit Dr. Matthias Gabriel – rühriger Impulsgeber und kenntnisreicher Referent für die Schnittstellen zwischen Philosophie und Analytischer Psychologie bei der C. G. Jung-Gesellschaft – und Thomas Schwind als bewährtem Moderator.

„Corona“ hatte das lang geplante Heidegger-Seminar mit Prof. Leo Dümpelmann zwar platzen lassen; am spontan ausgearbeiteten virtuellen Ersatzangebot beteiligten sich jedoch rund 50 Teilnehmer:innen, deren Diskussionsbedarf zeigte, dass das Thema einen Nerv in der globalen Pandemiezeit trifft. Eine Zeit, die in besonderer Weise durch Verunsicherung angesichts einer nur schwer einschätzbaren Bedrohung, des Orientierungsverlusts durch Isolation und massive Beeinträchtigungen des gesellschaftlichen (Zusammen)Lebens, der globalen Fokussierung auf Wissenschaft und Forschung, und der gerade in den freiheitlichen Demokratieordnungen als autoritär wahrgenommenen exekutiven Eingriffe und Beschränkungen gekennzeichnet ist. Welches Wissen brauchen wir? Was ist „richtige“ Erkenntnis? Wer generiert sie und wem vertrauen wir? Was ist wahr?

Matthias Gabriel führte zunächst in die Grundlagen zur Wissenstheorie ein, differenzierte Quellen und Arten des Wissens und erläuterte seine traditionelle (philosophische) Konzeption. Im Rahmen dieser Halbtagesveranstaltung beschränkte er sich dabei auf Fakten- und Tatsachenwissen – auf das Wissen, „dass etwas ist“. Als „gerechtfertigte wahre Meinung“ erfüllt es drei bereits in der Antike definierte Bedingungen, um Wissen von Lüge und Informiertheit abgrenzen zu können: eine persönliche Überzeugung, ihre Wahrheit und ihre Rechtfertigung. Dass erst in den vergangenen einhundert Jahren solche Definitionssicherheit sich immer wieder als zu kurz und widerlegbar erwies und neue Konzepte formuliert werden mussten, bestimmte den Fortgang des Referats, mit dem Matthias Gabriel den Arbeitskreis auf eine rasante Berg- und Talfahrt der „Wissensgeschichte“ mitnahm.

Als eine wesentliche Voraussetzung für das Wissen und die Orientierung in der Welt verdeutlichte er das Denken in Begriffen als Bezugspunkt zwischen Subjekt und Objekt mit Unterstützung von Immanuel Kant: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind«. Zu überraschenden Einblicken in die Weltanschauung, die sich aufgrund der klassischen abendländischen Begriffskonzeption beinahe zwangsläufig ergibt, führten die Erläuterungen zu den begrifflichen Klassifizierungen, die nach einem Stammbaumprinzip das Weltwissen nach antinomischen Bestimmungen katalogisieren: Eindrücklich zeigte sich dies im Bild der Definition einer „Engelshierarchie“, in der das Wesen eines Seraphim einen ihm zugewiesenen Platz in einer Rangordnung einnimmt – in dem das eine zwangsläufig auch „besser“, „wahrer“, „reicher“ ist als das andere.

Die Konsequenz ist eine ausgeprägte Neigung zu dualistischen Denkweisen in dieser Tradition, derer sich auch Verschwörungsideologien beispielsweise in der Erklärung moralischer Kategorien (gut/böse) zu existierenden Wesenheiten rigoros bedienen: In dieser Sicht wird der Anschlag des 11. September zum Werk des Antichristen.

Matthias Gabriel legte Wert darauf, dass in vielen Völkern das begriffliche Denken in antinomischen Hierarchien gar nicht vorhanden ist – also beispielsweise eine Trennung von Natur und Kultur (oder sogar Begriffe dafür) nicht existieren. Dass also die „klassische“ begriffliche Ordnung nicht aus einem allgemeingültigen Naturgesetz herrührt, sondern ein gesellschaftliches Produkt ist – und mit ihr der Blick auf die Welt.

Für moderne Ideologien und Verschwörungstheorien ist sie ein günstiger Ausgangspunkt: Sie stützen sich auf das „fundamentalistische“ Weltbild, weil es Komplexität maximal zu reduzieren vermag. Es führt zu künstlichen Definitionen konstruierter Identitäten, zu Starrheiten und dualistischen Denkweisen, wo zwischen Nein/Ja und Entweder/Oder ein Drittes oder andere Nuancen keinen Platz haben.

Modernere Begriffskonzeptionen – Gabriel führte beispielhaft Ludwig Wittgensteins „Ketten“ und „Familienähnlichkeiten“ an – gehen stärker von der Komplexität und Wandelbarkeit aus, von Ambivalenzen statt Eindeutigkeiten. Spiele, Netze, Rhizome sind Bilder für ihren Zugriff, in dem insbesondere auch der Einfluss der Sprache auf die Wirklichkeit Berücksichtigung finden.

Verschwörungstheoretiker versuchen, die Ambivalenzen und den Orientierungsverlust in der Welt, die mit dem Einbruch der Pandemie auf für Politik und Wissenschaft zunächst einmal unübersichtlich geworden ist, durch extremen Dualismus zu überwinden, der ganze Begriffsfelder verschiebt: Das war beispielhaft an der Gleichsetzung staatlich verordneter Hygienemaßnahmen mit dem „Ermächtigungsgesetz“ zu beobachten.

Diese Mechanismen funktionieren ganz ähnlich bei der Frage nach der Wahrheit. Ihr ist zumindest zu eigen, dass sie nur in der Korrespondenz von Überzeugung und Tatsache zum Tragen kommt. Denn auch, wenn Menschen von der Vorstellung einer Erdscheibe über Jahrhunderte überzeugt waren, war dies Bild zu keiner Zeit wahr. Verschwörungstheoretiker dagegen identifizieren ihre Überzeugung mit Wahrheit: Alternativen und Irrtum ausgeschlossen. Wahrheit „besitzt“ man, oder „ist“ man selbst. Abweichende Meinungen werden auch mit Gewalt verfolgt. Ob eine Überzeugung wahr ist oder nicht, hängt aber eben nicht davon ab, ob sie irgendjemand für wahr hält oder nicht.

Überzeugungen können indes nicht allein auf „Tatsachen“ und „Fakten“ beruhen – das würde eine absolute objektive Welt voraussetzen. Überzeugungen sind daher immer in erster Linie ein Ergebnis des Denkprozesses. – Hier führte Matthias Gabriel in die dritte Bedingung des Wissens ein: Die Rechtfertigung, also Argumentation und Begründbarkeit von Überzeugungen. Ihre besondere Herausforderung liegt darin, dass sie in Relation zu zusammenhängenden, ganzen Systemen von Überzeugungen und ihren jeweiligen Begründungen stehen – sozusagen eine Theorie bilden.

Verschwörungstheoretiker wenden argumentative Rechtfertigungsmethoden an, um sie zugleich ad absurdum zu führen und auszuhöhlen: etwa durch stark vereinfachende Begründungsketten, Zirkelschlüsse, bizarre Analogien, mit denen dogmatisch basale, unfehlbare Überzeugungen deduziert werden sollen. Ihr Argumentationssystem ist so geschlossen wie möglich. Offenheit ausgeschlossen.

Offene Bedeutungsräume, Pluralität von Sinnkontexten – so Matthias Gabriel zum Ende seines Vortrags – in unseren Erkenntnisbezügen zu unserer Welt bleiben immer „ein toter Punkt“, der absolute und abschließende gültige Antworten auf die fundamentalen skeptischen Fragen ausschließt. Darin liege gewissermaßen die „Schwäche“ gegenüber den Verschwörungsideologien, die sich im Besitze von unbedingten Wahrheiten wähnen. Erkenntnis müsse sich immer auf der Strecke zwischen Dogmatismus/Ideologie am einen und Skeptizismus/Relativismus am anderen Ende bewegen. Oder anders formuliert: zwischen Begeisterung/Engagement und Kritikfähigkeit als gute Pole für die Suche.

Oder, wie es der österreichische Wissenschaftstheoretiker Otto Neurath ins Bild setzte:

Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können.

Es wäre nicht Matthias Gabriel, hätte er nicht am Ende seines Vortrags noch eine sophistische Brücke zur selbst beanspruchten Erkenntnisfähigkeit der Analytischen Psychologie C. G. Jungs geschlagen: Ihre Tauglichkeit als ein erkenntnistheoretisches U-Boot für den Tauchgang in die Tiefe dieser See, des Meeres mit seinen „99 Namen“, des ‚Ding an sich‘, des Unbewussten … stellte er zur Diskussion. Sie wurde lange, dankbar und angeregt geführt.

Eine Fortsetzung des Seminars ist in Planung. Dann sollen die Erkenntnisse aus dem Vortag und der Diskussion auf die Ideologie der „Neuen Rechten“, AfD, Pegida usw. angewandt werden, um deren Denkstrukturen und demagogische Wirkungskräfte besser verstehen und ihnen begegnen zu können.

Claudia Zumbrock